Schwer zu sagen, wo in den Gemälden Michael Bibersteins oben ist und wo unten – und was genau das Auge eigentlich sehen würde, wenn sich der Nebel hier einmal lichtete. Doch genau das ist beabsichtigt: Dem gebürtigen Solothurner ging es in seiner Malerei nicht um die Darstellung einer beobachtbaren Natur, sondern um den Blick in innere Landschaften.
Ein Grund für den Sog dieser Bilder ins Imaginäre liegt in Bibersteins Interesse am Verhältnis von Sichtbarkeit und Vorstellung. Tatsächlich hatte er Ende der 1960er-Jahre in den USA zunächst Kunstgeschichte studiert, bevor er als Autodidakt zu malen begann. Zerlegte er in seinen frühen Bildern, inspiriert von der Konzeptkunst, die Malerei in ihre konstitutiven Bestandteile wie Farbauftrag, Format und Materialität – ein Beispiel dafür ist das fast reliefartig modellierte Gemälde Roter Flyer (1980) –, wandte er sich ab Mitte der 1980er-Jahre nach seinem Umzug ins portugiesische Alandroal zunehmend der Konstruktion imaginärer Landschaften zu. Nach dem Vorbild chinesischer Tuschmalerei liess er durch weiche Übergänge in Lasurtechnik ungefähre Bergwelten entstehen, die sich in stimmungsvollem Licht- und Schattenspiel auflösten und den Blick ins Offene weiteten. Dass sich Biberstein dieser Aufgabe nach wie vor auch analytisch näherte, zeigt das als dialogisches Nebeneinander unterschiedlicher Techniken, Texturen und Farbigkeiten angelegte Diptychon ohne Titel (double landscape) (1990). In Small Attractor (1992) hingegen teilen sich Monochromie und Wolkenlandschaft den Bildraum und loten still – wie seine zeitgleich für die documenta IX entstandenen Arbeiten – das grosse Imaginationspotenzial abstrakter Malerei aus. Der von Biberstein zugleich angestrebten körperlichen Wirkung seiner Bilder widmen sich die Zeichnungen der Serie Small Endorphin Accelerator (1996/1997) in kaum wahrnehmbaren, schwadenartigen Formationen, die eher einen Energiezustand als ein Bild evozieren.
In der Kunstgeschichte der Schweiz ist das atmosphärische Werk Bibersteins ohne Vergleich geblieben. Als sein Höhepunkt gilt das 2016 posthum realisierte Deckengemälde in der Barockkirche Santa Isabel in Lissabon, das Biberstein noch zu Lebzeiten entworfen hatte.
Michael Biberstein wurde 1948 in Solothurn (CHE) geboren; er starb 2013 in Alandroal (PRT).
Tätigkeitsbereiche: Malerei, Zeichnung, Wandbild, Skulptur, Relief, Installation