Martin Disler malt, zeichnet und gestaltet plastische Werke auf Gedeih und Verderb; er ist der Prototyp eines Künstlers, der seine Bilder ohne angelerntes Wissen in einem an die Grenzen der physischen und psychischen Belastbarkeit stossenden Schaffensrausch aus seinem tiefsten inneren herausholt. Wer sich auf sein Werk einlässt, wird mit starken Emotionen, mit Liebe, Selbstvergessenheit, Todesangst und Erlösung konfrontiert. Die internationale Anerkennung des 1996 auf dem Zenit seiner Schaffenskraft verstorbenen Künstlers ist deshalb nicht gleichzusetzen mit Popularität. Mit Erbauung oder Dekoration haben seine Werke nichts zu tun. Vielmehr sind sie vergleichbar mit den Schöpfungen Louis Soutters oder Miriam Cahns, die, wie er, in bedingungsloser künstlerischer Hingabe existenzielle Ängste heraufbeschwören.
Die grosse Arbeit auf Papier aus der Sammlung hat wie viele seiner Werke - keinen Titel, obwohl diese, dort wo sie vorhanden sind, die Atmosphäre des Bildgeschehens poetisch eindrucksvoll umschreiben. Titel wie Umgebung der Liebe, Häutungen und Tanz oder Das Gedränge der Götter, der Wucher der Menschen, berühren die archetypische Thematik, um die sein Werk kreist. Für die Arbeit Martin Dislers aus der Sammlung tauchte eines Tages wie selbstverständlich die Bezeichnung «Pietà» auf (Pietà: die Darstellung der Gottesmutter mit dem Leichnam Christi auf dem Schoss). Der pyramidale Bildaufbau in Dislers Werk erinnert an traditionelle Dreieckskompositionen dieses Themas. Schmerz wird fühlbar durch die Gestik der sich überlagernden Figuren; der Moment der Erlösung kündet sich an in der Transparenz der lichten Farben. Mit einer erdfarbenen Pastellkreide gräbt sich der Künstler ins Werk, bündelt Linien und markante Punkte zu nebelhatten Figuren und setzt schliesslich blaue und weisse Ölfarben auf das Blatt, um einen Ort zu markieren oder eine zeichenhafte Figur zu setzen. Diese ist mit der Darstellung der Seele auf mittelalterlichen Bildern vergleichbar. Die Bezüge zur christlichen Ikonografie stehen stellvertretend für alle elementaren Empfindungen der Menschen. Da Martin Dislers Werke Ausdruck sind von Liebe, Erotik und Tod, von Angst und Macht, aber auch von Hingabe und Hoffnung, liegen solche Vergleiche nahe und sind aufschlussreicher als die Zuordnung seines Werkes zu expressionistischen Bewegungen in der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts.
(Quelle: Katalog ‚Innovation und Tradition‘, Bern 2001)