Franz Wanner arbeitet oft in Zyklen und nimmt mit seinen Werken, die sich zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion sowie zwischen Malerei und Skulptur bewegen, Bezug auf die Kunstgeschichte. Er ist ein belesener Künstler, aber auch ein Vielgereister, d. h. er hat die Kunstgeschichte nicht nur im Kopf, sondern er kennt die Meisterwerke der europäischen Kunst aus eigener Anschauung. Als Künstler hat er ein anderes Verhältnis zu ihnen als ein Kunsthistoriker: Anstatt sie mit der Sprache zu ergründen, setzt er ihnen eigene Werke entgegen, die sich an den Ansprüchen der Tradition messen, in ihrer Bildsprache aber zeitgemäss sind.
Die Trilogie Werden, Sein, Vergehen entstand in einem grossen Atelier im bündnerischen Fürstenau, von wo aus Wanner, wenn er nicht malte, ausgedehnte Radtouren unternahm. Rad-fahren bedeutet für ihn nicht nur sportliche Leistung, sondern hat im doppelten Sinne mit Naturerfahrung zu tun: der Erfahrung der eigenen physischen und psychischen Grenzen einerseits und dem intensiven Erlebnis der wechselnden Landschaften andererseits. Solche Gefühle und Sehnsüchte fliessen neben der Auseinandersetzung mit Werken der Kunstgeschichte in die Arbeiten Wanners ein. im Bündnerland, im Museum in St. Moritz, ist auch das grosse Alpentriptychon Giovanni Segantinis zu Hause, auf das sich Franz Wanner mit seiner Trilogie bezieht. Analog zu La natura, La vita und La morte (1899) von Segantini steht das Bild Werden in erdigem Braun für die Natur und das Keimen, versinnbildlicht Sein in feurigem Rot Energie und Leben, und verweist Vergehen in tiefem Blau auf Vergänglichkeit, auf das Geistige und die Seele, aber auch auf Ewigkeit und Himmel. Während die Farben an sich schon die Symbolik dieser Vergleichsbilder enthalten, evozieren die grossen Formate der drei Gemälde die Erfahrung der majestätischen, weiten Landschaft des Engadins. Zum emotionalen Erleben der Farben tritt die physische Erfahrung der grossen, gleichsam skulpturalen Flächen. Der Künstler steigert diese Wirkung durch die Wahl und den Auftrag der Malmaterialien. Er verwendet reine Farbpigmente und bindet diese - anstelle von 01 mit Hasenleim; dann wird dieses Gemisch in unregelmässigen Schichten auf den Malgrund gestrichen. An gewissen Stellen versickert das Malmaterial in der Jute, an anderen verdichtet es sich zu kompakten Pigmentmassen; so entsteht ein Werk, das entscheidende Qualitäten von Malerei und Skulptur in sich vereint.
(Quelle: Katalog ‚Innovation und Tradition‘, Bern 2001)
Franz Wanner ist 1956 in Wauwil (CHE) geboren. Er lebt und arbeitet in Walenstadtberg.
Tätigkeitsbereich: Malerei, Zeichnung, Installation, Plastik
In seinem 1955 im Kölner Funkhaus gehaltenen Vortrag „Soll die Dichtung das Leben bessern?“ über Sinn und Zweck der Kunst und ihren gesellschaftlichen Nutzen zieht Gottfried Benn zwischen Kunst und Kultur eine Trennlinie: „Ich bin nämlich der Ansicht, dass Kunst und Kultur nicht allzu viel miteinander zu tun haben. Ich habe schon oft dafür plädiert, dass man scharf zwischen zwei Erscheinungen unterscheiden sollte, nämlich der des Kulturträgers und der des Kunstträgers. Kunst ist nicht Kultur, Kunst hat eine Seite nach der Bildung, der Erziehung, der Kultur, aber nur, weil sie eben das alles nicht ist, sondern das andere, eben Kunst. Die Welt des Kulturträgers besteht aus Humus, Gartenerde, er verarbeitet, pflegt, baut aus, wird hinweisen auf Kunst, sie anbringen, einlaufen lassen, Kurse, Lehrgänge für sie einrichten, er glaubt an die Geschichte, er ist Positivist. Der Kunstträger ist statistisch asozial, weiss kaum etwas von vor ihm und nach ihm, lebt nur seinem inneren Material, für das sammelt er Eindrücke in sich hinein, zieht sie nach innen, so tief nach innen, bis es sein Material berührt, unruhig macht, zur Entladung treibt. Er ist uninteressiert an Verbreiterung, Flächenwirkung, Aufnahmesteigerung, an Kultur.“
Kunst berührt die Frage nach dem Zusammenhang von individuellem Schicksal und Wahrheit. Benn spricht es an: dieses „nach innen ziehen“, aber nicht ins Elend des eigenen Ichs, sondern in die Tiefe der Sprache. Die Geworfenheit des Individuums, die Tatsache der Biographie, die Ahnungen und Leidenschaften sind der individuelle Grundstoff; die Kunst aber entsteht, wie das Wissen – ich verstehe darunter im aristotelischen Sinn nicht das Wissen aus Erfahrung, sondern das Wissen aus dem Nachdenken – zwingend aus der Differenz zwischen dem individuellen Schicksal und der menschlichen Unabdingbarkeit zum Sprachlichen. Erst in der Übersetzung erlangt der individuelle Stoff seine Gültigkeit; am inhärenten Zwang zum Sprachlichen richtet sich das Individuelle.
Aus einem gequälten oder auch freudvollen Innern zu schöpfen und dies als Garant einer ureigenen Künstlerpersönlichkeit zu nehmen, ist eine Chimäre. Das Persönliche und Individuelle zeigt sich ungerufen und übermächtig im Unvermögen, im schwachen Denken, in der Gefühlsduselei. Die Gleichung Kunst = Ausdruck des Inneren ist eine trügerische Abkürzung. In keinem Künstler ist die Kunst innewohnend, sie muss vielmehr von Aussen an ihn herangetragen werden. Man sollte sich also hüten, Ausdruck mit den Spiegeltricks der Erregtheit zu verwechseln.
Kunst ist Form: eine Geste, die auf den Verstand gerichtet ist. Gefühl, Reflexion und Wissen sind ihre Werkzeuge. In ihr spricht die schon von den Griechen geprägte Formel der téchne, eine auf Handlung bezogene Wissensaneignung. Das Sein des Kunstwerks ist an die Erwägung eines „Erscheinens“, an eine Gestalt und an ein Material gebunden. Dies steht keineswegs im Widerspruch zur Haltung, die schon Leonardo mit seinem Ausspruch „La pittura è cosa mentale“, oder Michelangelo mit: „Si dipinge col cervello non col le mani“ für sich reklamiert hatten. Kunst ist eine geistige Arbeit, auch wenn, oder gerade weil sie, wie im Fall der Skulptur und der Malerei, mit Sichtbarkeit und dem Betrachtet-werden rechnet – oder, in der Musik und Literatur, mit Klang und dem Gehört- beziehungsweise Gelesen-werden; Kunst operiert als ein Erkenntnisweg in Engführung an die Welt der Erscheinungen.