Flavio Paolucci ist ein Mensch, der viel nachdenkt, wenig über Kunst spricht, dafür umso wachsamer registriert, was um ihn herum vorgeht. Für die Geheimnisse der Natur scheint er einen siebten Sinn zu haben. Mit verschiedenen Hölzern, eigens präpariertem Papier und natürlich transparenten Farben gestaltet er Objekte und Bilder, die verborgenen Schöpfungen der Natur gleichen, aber poetische Erfindungen seiner Kunst sind.
Seine Werke sind zwar ungegenständlich, aber nicht abstrakt, sie stehen surrealistischen Bildfindungen nahe, wirken jedoch ernsthaft und besonnen. Es werden intuitiv Themen wie Geburt und Tod oder Leben, Liebe und Vergänglichkeit berührt. Leichtigkeit und positive Kraft strömen schliesslich aus der schwungvollen Formgebung und der Zartheit des verwendeten Materials. Das unbetitelte Werk von 1991 ist typisch für die Arbeitsweise des Künstlers - es schwankt zwischen Bild und Objekt und widerspiegelt auf vielschichtige Weise die Faszination für das Thema Natur und Metamorphose, Die Verwandlung vom Naturgegenstand zum Kunstgegenstand beginnt mit der gezielten Wahl der Materialien, die Paolucci in der Umgebung seines Ateliers im Bleniotal findet. Holz, Papier und Kohle bilden die Hauptbestandteile, die er in Anlehnung an das zyklische Werden, Sein und Vergehen der Natur zueinander in Beziehung setzt. Seine Materialien sind Werkstoff und Bedeutungsträger zugleich, ihre spezielle technische Verarbeitung ein gut gehütetes Geheimnis, das Paolucci nur ansatzweise preisgibt. In einem aufwendigen Verfahren hat er das hellgrau schimmernde Seidenpapier lagenweise aufgetragen und so den Effekt einer lebendig-organischen Oberfläche erzielt, deren Struktur an gegerbte Tierhäute erinnert. Die darauf hegende Bogenform aus Papier und Kohlepartikeln strahlt etwas von der Aura eines magischen Kultobjektes aus: Eine langgestreckte, totemhafte Figur, deren Fundament fest mit dem Bildrahmen verwachsen ist, scheint sich von ihrer irdischen Hülle zu lösen. Ausgehend von einem markanten, schwarz eingefärbten Holzkeil, dessen Silhouette in Form von fragilem Papier auf der Bildfläche zweimal wiederkehrt, entsteht ein optischer Dreiklang, der die Komposition rhythmisiert und im spannungsfollen Gleichgewicht hält.
(Quelle: Katalog ‚Innovation und Tradition‘, Bern 2001)
Flavio Paolucci ist 1934 in Torre (CHE) geboren. Er lebt und arbeitet in Biasca.
Tätigkeitsbereich: Malerei, Skulptur, Installation